Das Anliegen
kirchlichen Gedenkens

Das Gedenken gilt den unzähligen Menschen, die Opfer der Gewalt und der Grausamkeit geworden sind, die andere Menschen als Täter aus Wahn und Mordlust an ihnen ausgeübt haben. Die schon naturwissenschaftlich vollkommen willkürliche und unhaltbare Konzeption und Ideologie des Rassedenkens hat dazu geführt, daß Juden und Sinti und Roma und viele, viele andere in unvorstellbarer Zahl nicht nur vernichtet wurden, sondern zuvor noch die entwürdigendste Behandlung erleiden mußten. Viele von den wenigen, die oft wie durch ein Wunder überlebt haben, waren oder sind ihr restliches Leben aufs Schwerste gezeichnet. An den Folgen der Taten haben auch die nachfolgenden Generationen oft noch erheblich mit zu tragen.

Nun, da die Anzahl derer, die als Opfer der Gewalt, des Schreckens und der Willkür überlebt haben, immer geringer wird, da die Zeitzeugen weniger werden, meinen manche oder viele, daß man einen Schlußstrich ziehen müsse.
Abgesehen davon, daß man Erinnerung gar nicht abschließen oder verbieten kann, wäre so ein Schlußstrich für die menschliche Kultur doppelt tragisch: zum einen, würde der die Opfer ein zweites Mal ihrer Würde berauben, von ihnen gewissermaßen fordern, nicht weiterhin darauf zu beharren, daß ihnen schrecklichstes Unrecht angetan wurde; zum anderen würde er eine unverzichtbare Erkenntnis und Lehre dem Vergessen anheimstellen:

Die Erkenntnis, daß die Idee vom vollkommenen Menschen, zumal in der biologischen oder medizinischen Variante nahezu zwangsläufig dazu führt, daß man die "unvollkommenen" selektiert, aussondert, zu Sklaven, Freiwild, Versuchsobjekten degradiert - und dann wieder nach Bedarf und Belieben vernichtet.
Gedenken ist so genau das nicht, was die Schlußstrich-Vertreter unterstellen: Bloße Vergangenheits-
befangenheit. Das Gegenteil ist der Fall: aus der Erinnerung, aus dem Gedenken speist sich die Erkenntnisfähigkeit, klären sich die Kriterien und die Kategorien, mit denen Menschen einander wahrnehmen und beurteilen können.
Wenn es offenbar schon unumgänglich ist, daß wir Menschen uns gegenseitig immer wieder auch bewerten müssen, so müßte doch aus der Geschichte der Shoah und des industriell organisierten Massenmordes hinlänglich klar geworden sein, daß keinem, der menschliches Antlitz trägt, die Würde des Menschseins aberkannt werden kann und darf.

Zahlreiche Mitglieder der christlichen Kirchen, auch einige hochrangige, waren selbst Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und Unterdrückung - auch wenn die Rolle der Christen im Nationalsozialismus auf allen Ebenen insgesamt oft fragwürdig war.

Das erste Anliegen ist das Erinnern an die Leiden der Verfolgten, dies gehört zum Urauftrag der Kirche: die "memoria passionis" (J.B. Metz, s. Literatur) - die Erinnerung an die Passion Jesu bildet den historischen wie inhaltlichen Kern der Glaubensüberlieferung im christlichen Credo. Schon im Neuen Testamten identifiziert sich Jesus mit allen Verfolgten, Unterdrückten und Gefangenen (Evangelium nach Matthäus 25,31-46). Die Erinnerung der Jünger an den Gekreuzigten, ihre Zusammenkunft im Gedächtnismahl an den (miterlebten) Tod Jesu und der Glauben, daß gerade durch diesen Tod die seine Auferstehung und damit die Auferstehung aller begründet ist, hat zur Entstehung der Kirche geführt.

Auch wenn die Kirche diesen biblischen Grundauftrag, ihr fundamentales Vermächtnis oft genug verraten hat, so hat sie es doch bewahrt und weitergegeben: Bis zum heutigen Tag ist klar, daß sie diesem Auftrag nur treu bleiben kann, wenn sie nicht an den Opfern von Gewalt und Misshandlung, von Terror und Krieg vorbeigeht, sondern sich ihrer annimmt und sich um sie sorgt. Die Erinnerung an Opfer vergangener Zeiten steht damit nicht in Konkurrenz zur Sorge um die Opfer von gegenwärtigen Ereignissen. Im Gegenteil: Die Wahrnehmung und das Gedenken sind unteilbar, weil es immer um die Würde von einzelnen Menschen geht.
Nach biblischer Vorstellung (Buch Genesis 1,26 f.) ist jedem Menschen unaufgebbar diese grundlegende Würde eingegeben, sogar dann, wenn er den Anspruch, der damit verbunden ist, verrät. In der Gottebenbildlichkeit wurzelt nach christlichem Verständnis die besondere Würde des Menschen.
(PR Ludwig Schmidinger)